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Rückblick: Branchen- und Netzwerktreffen 2021 in Freiburg

Inspiriert von der Natur - Experten berichten aus der Praxis

„Die Natur zum Vorbild nehmen“: In manchen Bereichen der medizinischen Forschung und Anwendung ist dies nicht mehr nur eine leere Phrase, sondern tatsächlich bereits in der Praxis angekommen. Dies belegen vier konkrete Beispiele, die von Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen kürzlich auf der Veranstaltung „Digitale und Biologische Transformation“ präsentiert wurden, die die BIOPRO Baden-Württemberg in Freiburg organisiert hatte.

Schlagworte wie „Künstliche Intelligenz, Biointelligenz und Innovation“ stehen ganz besonders für die digitale und biologische Transformation, die die Diskussionen in den Gesundheitswissenschaften derzeit bestimmen. Unter diesem Motto stand deshalb auch das diesjährige Forum Gesundheitsindustrie Baden-Württemberg, das die BIOPRO Baden-Württemberg am 16.09.21 als zentrales Branchen- und Netzwerktreffen in Freiburg veranstaltet hat.

Unter den zahlreichen hochkarätig besetzten Podiumsdiskussionen, Visions- und Fachvorträgen stand auch die Vortragsreihe „Inspiriert durch die Natur – Der biologische Wandel in der Gesundheitsindustrie“ auf dem Programm. In vier Präsentationen wurden Innovationen vorgestellt, die inspiriert durch biologische Prinzipien entwickelt wurden, bereits auf dem Weg zu Patientinnen und Patienten sind und in Zukunft das jeweilige medizinische Anwendungsgebiet revolutionieren könnten.

Definition Biologischer Transformation auf mehreren Ebenen

Ein Mann ist auf einer Leinwand zu sehen und hält einen Vortrag.
Dr. Urs Schneider vom Fraunhofer IPA war online zugeschaltet. © BIOPRO Baden-Württemberg GmbH / Klaus Polkowski

Den Anfang dieser Präsentationen gesundheitswissenschaftlicher Innovationen machte der Mediziner Dr. Urs Schneider, Leiter des Bereichs „Medizin und Bioproduktionstechnik“ am Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA in seinem Vortrag „Technische Innovationen aus der Forschung für eine effiziente medizinische Versorgung „made in Baden-Württemberg“.

Er berichtete von einer Voruntersuchung zur biologischen Transformation der industriellen Wertschöpfung (BIOTRAIN) des Fraunhofer IPA zur Definition von Biologischer Intelligenz und Biotransformation. Aus dieser BIOTRAIN-Studie mit weltweiten Befragungen ergaben sich vorwiegend drei Modi der Biologischen Transformation:

  1. Biointelligenz aus den Bereichen Bionik und Biomimetik – Inspiration aus Naturverstehen für eine bioinspirierte Wertschöpfung
  2. die Verzahnung von Biologie und Technik, beispielsweise in Bioreaktoren – eine biointegrierte Wertschöpfung
  3. die Interaktion zwischen biologischen und technischen Systemen wie in personalisierten Therapieverfahren – eine biointelligente Wertschöpfung.

Daraus leiteten die Expertinnen und Experten insgesamt zehn konkrete Handlungsfelder und Empfehlungen ab, darunter die Entwicklung und Verarbeitung biointelligenter Materialien oder Biologie-Technik-Schnittstellen, die auch in der Biotechnologie und Medizintechnik Baden-Württembergs eine große Rolle spielen. Dabei sei der Nachhaltigkeitsgedanke bei allen Diskussionen die Baseline gewesen, wie Schneider berichtete. Aspekte wurden mit Chancen zu personalisierter Ernährung, nachhaltigem Wohnen, effizientem Energieverbrauch, vernünftigem Konsum und modernen medizinischen Therapiemöglichkeiten genannt.

Personalisierte Medizin soll allen gleichermaßen zur Verfügung stehen

Gerade die kommenden, neuartigen Therapeutika der personalisierten Medizin würden immer mehr von einem verbesserten Biologie-Technik-Verständnis profitieren, um in ausreichenden Mengen bei entsprechender Qualität und Bezahlbarkeit produziert werden zu können. Um dies zu erreichen, sei aber extreme Interdisziplinarität gefragt. Eine solche wissenschaftliche Interaktion ist deshalb in Baden-Württemberg bereits zwischen den verschiedensten Institutionen realisiert, darunter solche aus Universitäten, der Fraunhofer und Max-Planck-Gesellschaft, aber auch der BIOPRO Baden-Württemberg. Die Initiative soll demnächst offiziell als e.V. unter dem Namen „Biointelligence Competence Center“ geführt werden.

Als konkretes Beispiel aus den Bereichen personalisierte Medizin und Prozessinnovationen nannte der Experte die Vision von modularen, dezentralen Minifabriken zur autonomen Produktion von ATMPs (Arzneimittel für neuartige Therapien, Advanced Therapy Medicinal Product), die sehr klinik- und behandlungsnah Produkte der Hauptkategorien Gentherapeutika, Somatische Zelltherapien, biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte und kombinierte ATMPs zur Verfügung stellen sollen. Die derzeitige Herstellung dieser Therapeutika, zum Beispiel CAR-T-Zellen, sei aufwändig und hochmanuell, sodass Preise von mehreren Hunderttausend Euro pro Dosis den Kreis der Erkrankten, die von der Therapie profitieren könnten, erheblich einschränkt: „Man könnte mehr Menschen behandeln, wenn man technisch skalieren könnte“, sagte Schneider. Deshalb arbeite man konkret an Modularitätsstrategien und Visionen, um mit neuen hochautomatisierten Produktionstechnologien zu einer bezahlbaren Medizin zu gelangen.

Weiterhin referierte Schneider über das neu bewilligte, auf neun Jahre angelegte Zukunftscluster am Standort Stuttgart: „Quantensensoren der Zukunft (QSens)“, in dem ab Januar 2022 in verschiedenen Arbeitspaketen geforscht und entwickelt wird. Darunter auch das vom Referenten koordinierte Medizintechnik-Projekt „Mensch-Maschine-Schnittstelle basierend auf Quantensensoren“ mit der besonderen Biologie-Technik-Komponente Biomagnetsignale. Diese Messmethode, beispielsweise von Gehirn und peripheren Muskeln, soll zukünftig so verwendet werden können, dass sie gegenüber bisherigen elektrischen Verfahren – Elektroenzephalografie EEG und Elektromyografie EMG – mit verbesserter Auflösung bei geringeren Störfaktoren erhebliche Vorteile bringen und wesentlich sensitivere Untersuchungen ermöglichen kann.

Nanobodies als Therapeutika der Zukunft

Ein Mann hält einen Vortrag vor einer Leinwand
Prof. Dr. Ulrich Rothbauer zeigte in seinem Vortrag, wie Antikörper aus Alpakas gewonnen werden können. © BIOPRO Baden-Württemberg GmbH / Klaus Polkowski

Im zweiten Vortrag des Nachmittags „Nanobodies aus Alpakas für die Diagnostik und Therapie“ berichtete Prof. Dr. Ulrich Rothbauer, Bereichsleiter für PharmaBiotech am Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut (NMI) Reutlingen von einer besonderen Innovation aus der Natur: Antikörpern – tragende Bestandteile der körpereigenen Abwehr gegen Pathogene, Blockbuster in der Pharmazie und auch Schlüsselreagenzien in der biomedizinischen Forschung. Grundsätzlich seit Millionen von Jahren in der Evolution unverändert, wurde vor Jahren per Zufall eine ganz andere Form dieser Proteine entdeckt, sogenannte Schwer-Ketten-Antikörper, die nur bei Kamelen, Dromedaren und Alpakas vorkommen. Sie sind wesentlich einfacher gebaut als konventionelle Antikörper, was sie überaus interessant für rekombinante Antikörpertechnologien macht. Dabei sind die spezifischen Bindungsdomänen für Antigene sehr klein, und deshalb werden die Strukturen Nanobodies genannt. Gegenüber herkömmlichen Antikörpern gibt es zahlreiche Vorteile: „Sie sind nicht nur zehnfach kleiner und damit sehr stabil, löslich und robust und dringen schnell in Gewebe ein, sondern können auch reproduzierbar, effizient und kostengünstig in Hefen oder Bakterien produziert werden“, wie der Biologe berichtete.

Herstellen kann man die Nanobodies nach Vakzinierung der Alpakas mithilfe rekombinanter Antikörpertechnologien und klassischen Screeningverfahren. „Das ist wie mit Legobausteinen, die man dann sehr effizient mit anderen Bausteinen – Nanobodies - kombinieren kann, um die gewünschten Effekte zu erzielen“, sagte Rothbauer. „Nach Charakterisierung und Funktionalisierung können sie dann angewandt werden.“ Bereits 2020 wurde der so hergestellte erste therapeutisch wirksame Nanobody zugelassen, Caplacizumab, der als reines Biological verabreicht wird. Andere Anwendungsbereiche sind zelluläre und Proteom-Analysen, aber auch molekulare Bildgebungsverfahren, für die die Komplexe entsprechend markiert werden können.

SARS-CoV2: Nanobodies zur Therapie und Analyse

Als Beispiel aus der aktuellen Forschung beschrieb Rothbauer die Entwicklung von Nanobodies gegen SARS-CoV-2, die den Eintritt des Virus in die Zelle unterbinden. Den Forschenden sei es gelungen, ein Set aus Nanobodies zu finden, die auf effiziente Weise neutralisierend wirken, so der Professor. Zudem konnte identifiziert werden, wo diese Strukturen auf der Virusoberfläche binden – nämlich genau an den Stellen, an denen das Virus bislang Mutationen vornahm, unter anderem auch mit seiner Delta-Variante. Deshalb sollen für ein Molekül mit effektivster Wirkung zwei verschiedene Nanobodies kombiniert werden.

Parallel zu einer langwierigen, therapeutischen Entwicklung dieses biparatopischen Moleküls begannen die Forschenden auch mit der Etablierung des NeutrobodyPlex – eines Testsystems zur Detektion und Vermessung neutralisierender Antikörper nach Infektion oder Impfung. Sie konnten mit ihrer schnell und einfach durchzuführenden Methode bereits mehrere Tausend Personen untersuchen und stellten fest, dass die individuelle Zahl der wirklich neutralisierenden Antikörper sehr unterschiedlich ausfallen kann. „Einige Anwendungen und ein hervorragendes Beispiel dafür, wie man aus der Natur lernen kann“, schloss der Experte seine Ausführungen.

Künstliche neuronale Netze untersuchen echte Gehirnfunktionen

Ein Mann hält einen virtuellen Vortrag
Prof. Dr. Tonio Ball von der Universität Freiburg sprach über neurologische Schnittstellen. © BIOPRO Baden-Württemberg GmbH / Klaus Polkowski

Im dritten Vortrag mit dem Titel „Neurotechnologie in der medizinischen Anwendung“ sprach Prof. Dr. Tonio Ball, Gruppenleiter des Neuromedical AI Lab am Universitätsklinikum Freiburg über aktuelle Beispiele zur Nutzung und zum Potenzial von KI in der Medizin: Das KI-System AlphaFold, das Proteinstrukturen aus der Aminosäuresequenz dreidimensional vorhersagt – mit weitreichenden Folgen für die Pharmaforschung und die CLAIRE-COVID-19-Initiative (Confederation of Laboratories for Artificial Intelligence Research in Europe [CLAIRE]), die Modellierungen und Auswertungen zu verschiedenen Aspekten der Virusinfektion durchführte.

Die Forschungsarbeiten der eigenen Arbeitsgruppe Balls betreffen unter anderem die automatisierte Darstellung von Ergebnissen aus bildgebenden Untersuchungen, beispielsweise von Gehirntumoren, mithilfe von KI, um Operationen in Virtual Reality im Voraus bestmöglich planen und vorbereiten zu können. Dabei werden verschiedenste Informationen dreidimensional zusammengeführt und individuelle Modelle der Erkrankten erstellt.

Die Methode, Deep Learning oder „tiefe Netze“ genannt, die für solche Analysen verwendet wird, wurde aus der Natur abgeleitet - inspiriert und entwickelt aus der Ähnlichkeit zu den neuronalen Netzen des Gehirns. „Was bei unseren Arbeiten aber besonders interessant ist: Hier kommen diese Methoden jetzt sozusagen wieder zurück, weil wir die künstlichen neuronalen Netze dazu verwenden, um Signale des echten Gehirns auszuwerten“, berichtet der Wissenschaftler. „Dabei können tiefe Netze direkt mit den rohen Daten gefüttert werden.“

Gehirngesteuerte Robotiksysteme helfen Erkrankten

Als weiteres konkretes Beispiel aus den Forschungsarbeiten des Referenten wurde die Entwicklung von neuen gehirngesteuerten Assistenzsystemen für Schwerstgelähmte angeführt und demonstriert, die rein über die Vorstellungskraft der Erkrankten bewegt werden können. Dabei handelt es sich um das weltweit erste Interface, das auf tiefen neuronalen Netzen basiert und mit hoher Genauigkeit agiert. „Eine gute Grundlage für viele weitere Anwendungen“, so Ball.

Weiterhin beschäftigt sich der Neurowissenschaftler mit einer Möglichkeit zur automatisierten EEG-Diagnose. Den Forschenden seiner Arbeitsgruppe ist es bereits gelungen, neuronale Netze so zu trainieren, dass sie pathologische Befunde einer solchen routinemäßig angewandten Untersuchung der Gehirnfunktionen, wie sie in jeder neurologischen Praxis täglich durchgeführt wird, zuverlässig erkennen und darstellen konnten.

Quantenpolarisator soll MRT revolutionieren

Im vierten und letzten Vortrag der Reihe mit dem Titel „Leveraging quantum dynamics to revolutionize medical imaging“ berichtete der Mediziner und Unternehmensberater Dr. Sella Brosh, CEO der Ulmer NVision Imaging Technologies GmbH, von einer Entwicklung seines Unternehmens – dem Quantenpolarisator, der zukünftig jede MRT-Untersuchung (Magnetresonanztomografie) ergänzen sollte, wie er sagte. Dabei werden natürliche Metaboliten als Kontrastmittel polarisiert, injiziert.

Im Gegensatz zu herkömmlichen MRT-Analysen, deren Funktionsprinzip auf Wasser basiert, stützt sich die neuartige Untersuchungsmethode mithilfe des Polarisators auf den Metabolismus anderer körpereigener Substanzen, vor allem von Kohlenhydraten wie Pyruvat. Diese Metaboliten können durch die Wirkung des Polarisators das bildgebende Signal bei der Untersuchung um ein Vielfaches verbessern; anatomische Strukturen können zudem mit ihren natürlichen Reaktionsketten abgebildet werden, um beispielsweise den Stoffwechsel von Tumoren zu untersuchen. Diese neue Form der Bildgebung, die nicht mehr nur rein anatomische, sondern nun auch Gegebenheiten des Stoffwechsels auf Molekülebene darstellen kann, ermöglicht es, nicht-invasiv zu einer exakten Diagnose zu gelangen. Beispielsweise kann die Aggressivität von Tumoren anhand ihrer Stoffwechselaktivität beobachtet und analysiert werden. Die Zuverlässigkeit der Methode wurde histologisch bestätigt.

Nicht-invasiv, schnell und sicher zur Diagnose

„Dies wird in Zukunft zu sehr viel weniger invasiven diagnostischen Eingriffen führen“, meint Brosh. „Und man kann die Patienten sehr viel besser überwachen. Kein anderes Kontrastmittel kann das leisten und gleichzeitig so unschädlich sein. Auch kann man Erkrankungen viel früher erkennen und damit erfolgreicher therapieren.“ Dies hat sich in Untersuchungen gemeinsam mit dem Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York bei Betroffenen mit Verdacht auf Prostatakrebs bereits erwiesen. Hier konnte die äußerst schmerzhafte gängige Praxis der Analyse durch Biopsien vermieden werden. Andere konkrete Anwendungen sind in Arbeit.

Derzeit wird der Prototyp des Geräts in präklinischen Untersuchungen an den Universitäten Ulm und München eingesetzt. Die ersten klinischen Tests mit rund 50 Patienten sind für die nächsten 18 Monaten geplant. 2024 soll eine größere Anzahl von Untersuchungen mit einem ersten kommerziellen System folgen, und ab 2026 soll das Verfahren allen Patientinnen und Patienten zur Verfügung stehen. Dabei möchte NVision sowohl die Hardware als auch Verbrauchsmaterialien („Polarisations-Batterien“ und Kits) zur Verfügung stellen und vermarkten.

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