Als Kunde kennen wir das Problem alle aus dem Alltag: Möchte man sich nicht mit Ware von der Stange zufriedengeben, sondern ein hochwertiges Produkt haben, das auf die eigenen Bedürfnisse und Gegebenheiten abgestimmt ist, so wird schnell das eigene Budget gesprengt und die Wartezeit verlängert sich drastisch. Der Grund dafür ist einfach: Je stärker ein Produkt standardisiert ist, desto leichter lässt sich der Fertigungsprozess auslegen und optimieren. Für Massenware ist die Durchführung des Fertigungsprozesses letztlich ein reines Abarbeiten vorab definierter Schritte. Je mehr Individualisierung man nun zulässt, desto weniger können alle Schritte vorab umfassend festgelegt werden und es ist mehr Planungs- und Handarbeit gefragt. Planung und Umsetzung sind nicht mehr strikt voneinander getrennt. Das verlangsamt Prozesse und kostet Zeit und Geld.
Fertigungsflexibilität und Selbstanpassung
Schon seit ihren Anfängen beschäftigt sich die Automatisierungstechnik daher auch immer mit dem Aspekt der Fertigungsflexibilität. Im Kern ist das die Frage, wie komplexe Maschinen und Anlagen einerseits unabhängig von menschlichen Eingriffen arbeiten können, andererseits sich ändernde Anforderungen trotzdem schnell im Fertigungssystem umgesetzt werden können. Selbstanpassung spielt dabei eine wichtige Rolle, d. h. die Fähigkeit eines Systems, Teile seiner Funktionsweise in Reaktion auf äußere Signale ändern zu können. Einfache, regelungsbasierte Selbstanpassung, wie wir sie etwa von zuhause kennen, wenn der Kühlschrank seine Kühlleistung automatisch an die Umgebungstemperatur anpasst, gibt es schon lange. Durch die aktuelle digitale Transformation der Fertigung und Entwicklungen im Bereich des Maschinellen Lernens werden jedoch deutlich komplexere Formen der Selbstanpassung denkbar, die ein völlig neues Ausmaß an Fertigungsflexibilität erlauben.
Möglichkeiten und Herausforderungen durch die digitale Transformation
Die aktuelle digitale Transformation führt zur Entstehung sogenannter cyberphysischen Produktionssysteme (CPPS). Diese zeichnen sich dadurch aus, dass praktisch in jeder physischen Komponente Sensorik sowie eingebettete Computer verbaut sind und die Anbindung an die Cloud darüber hinaus weitere massive Rechen- und Speicherkapazitäten zur Verfügung stellt. Im Ergebnis können so viele Produkt- und Prozessdaten wie noch nie erfasst und verarbeitet werden. Dies ermöglicht die Erschaffung sogenannter Digitaler Zwillinge von Produkten und Produktionsprozesses, also digitaler Abbilder, die deutlich umfassender und detailgetreuer sind als heute gängige Modelle. Diese können beispielsweise genutzt werden, um im viel größeren Umfang als bisher Prozessverhalten zu simulieren. Darüber hinaus können die vielen Produkt- und Prozessdaten in Kombination mit Maschinellem Lernen genutzt werden, um auch in komplexen Fällen Maschinen automatisierte und autarke Entscheidungen treffen zu lassen.
Mit diesen Entwicklungen verbindet sich die Vision, dass sich in Zukunft Design- und Materialänderungen am Produkt automatisiert auf entsprechende Änderungen in der Fertigungsplanung, der Verfahrens- und Werkzeugauswahl bis hin zur Prozesskonfiguration abbilden lassen. Die Realisierung solch komplexer Selbstanpassungskaskaden ist jedoch noch mit vielen Herausforderungen verbunden. Von Seiten des Maschinellen Lernens sehen wir uns beispielsweise damit konfrontiert, dass Verfahren des Maschinellen Lernens heutzutage noch sehr große Mengen gut aufbereiteter Daten benötigen, um ähnliche Lernergebnisse wie Menschen zu erzielen. Daraus ergibt sich ein sehr aufwendiger Prozess, diese aufbereiteten Daten aus den gesammelten Produkt- und Prozessdaten zu extrahieren.
Vor dem Hintergrund der vielen Herausforderungen haben wir uns im Leitprojekt EVOLOPRO die Frage gestellt, wie es die Natur eigentlich schafft, umfangreiche Selbstanpassungskaskaden in komplexen Systemen zu realisieren.
Natur als Vorbild
Die belebte Natur ist voll an Beispielen komplexer Selbstanpassungskaskaden, bei denen, ausgehend von Umweltsignalen, Änderungen an vielen Teilsystemen ineinandergreifen. So etwas können wir beispielsweise beobachten, wenn ein Mensch eine Ballsportart erlernt. Dabei lernt er nicht nur neue Bewegungsabläufe, er verbessert auch seine Fähigkeit, bestimmte visuelle Informationen schnell zu verarbeiten, ebenso die Hand-Augen-Koordination, also die Fähigkeit, visuelle Eingaben in motorische Steuerungssignale zu übersetzen. Auch in der Insektenwelt finden sich viele Beispiele komplexer Selbstanpassungskaskaden, etwa wenn Raupen ihren gesamten Stoffwechsel an Pflanzenarten anpassen, in deren Umgebung sie aufwachsen, inklusive entgiftender Darmenzyme, um keinen Schaden von pflanzenspezifischen Giftstoffen davon zu tragen. Eine weitere faszinierende Form der Selbstanpassung lässt sich beispielweise in Fruchtfliegen oder Kolibakterien beobachten. Bedrohliche Umweltveränderungen versetzen den Organismus in einen Stresszustand, wodurch zuvor bereits erworbene genetische Veränderungen, die bis dahin unterdrückt wurden, plötzlich freigelassen werden und zu veränderter Morphologie oder Physiologie führen, die potenziell besser zu den neuen Umweltbedingungen passen. Dies ist ein Beispiel für populationsbasierte Selbstanpassung, bei der evolutionäre, von außen getriebene Veränderung Hand in Hand geht mit einer Steuerung durch den Organismus, wann und wieviel Evolution zugelassen wird.
Designmerkmale
Was die oben beschriebenen Beispiele aus der Natur spannend für das Thema Flexibilität und Selbstanpassung im Produktionskontext macht, ist, dass sich dahinter allgemeine Designmerkmale verbergen. Diese haben sich im Laufe der Evolution herausgebildet und die Natur setzt sie heute quasi universell ein, wenn es um die effiziente, wenig Information benötigende Anpassung von Lebewesen an sich veränderte Umweltbedingungen geht. Die Designmerkmale finden sich auf allen Ebenen biologischer Organisation – von der einzelnen Zelle bis zu ganzen Ökosystemen – und für alle Formen von Anpassungen, sei es evolutionär über Generationen hinweg, im Laufe der körperlichen Entwicklung eines Lebewesens oder bei der Verhaltensanpassung durch Lernen. Im Rahmen des Leitprojekts EVOLOPRO abstrahieren wir diese Designmerkmale unter dem Namen »Elemente der Flexibilität«. Im folgenden Stellen wir sie kurz vor.
Sechs Elemente der Flexibilität
- Modularität: Ein Modul ist eine leicht auszutauschende, häufig einsetzbare Einheit in einem Gesamtsystem, die eine abgrenzbare Teilaufgabe im Gesamtsystem übernimmt. Modular aufgebaute Systeme sind leichter an geänderte Anforderungen anzupassen, da nur vorgefertigte Einheiten ausgetauscht werden müssen.
- Hierarchie: Hierarchische Systeme bestehen aus ineinander verschachtelten Teilsystemen abnehmender Komplexität. Allgemein verbinden wir den Begriff Hierarchie eher mit Starrheit und mangelnder Flexibilität, diese Sichtweise greift jedoch zu kurz. Die richtige Art von Hierarchie kann Flexibilität fördern, da sie stabile Übergangsstadien erlaubt und notwendige Änderungen an die richtige Stelle im System kanalisiert werden können.
- Schwache regulatorische Kopplung: Schwache regulatorische Kopplung bezieht sich auf eine Reihe von Prinzipien, wie biologische Module auf zellulärer und molekularer Ebene miteinander kommunizieren. Auf technische Systeme übertragen, kann dies als Prinzipien für die Gestaltung von Schnittstellen verstanden werden, die eine möglichst einfache Rekombination von Modulen zur Erreichung neuer Systemfunktionen ermöglichen.
- Explorative Prozesse: Exploration bedeutet allgemein das ergebnisoffene Erkunden und Sammeln von Lösungsalternativen. Exploration ist ein aufwendiger, kostenintensiver Prozess. Zur richtigen Zeit und an der richtigen Stelle eingesetzt, tragen sie jedoch mit vertretbarem Aufwand zu einer massiven Flexibilitätssteigerung des Gesamtsystems bei.
- Degeneriertheit: Der Begriff Degeneriertheit ist oft negativ konnotiert, z. B. wenn wir damit Entartung, Fehlbildung oder Verfall bezeichnen. In der Biologie hat der Begriff jedoch auch eine völlig neutrale Bedeutung: Zwei Module in einem System werden als degeneriert bezeichnet, wenn sie sich unter bestimmten Bedingungen gleich verhalten, unter anderen jedoch unterschiedlich. Unter gleichbleibenden Anforderungen tragen degenerierte Module nicht anders als redundante Module zur Ausfallsicherheit des Systems bei. Unter variablen Anforderungen bieten degenerierte Module jedoch den Vorteil, unterschiedlich gute Lösungsalternativen darzustellen, wodurch mit höherer Wahrscheinlichkeit auf eine geänderte Anforderung reagiert werden kann.
- Schwache Verknüpfung: Schwache Verknüpfungen zwischen Komponenten eines Systems sind einzeln betrachtet kaum bedeutend. Sie sind das Gegenteil von starken Verbindungen, deren Kappen sofort zu einem Ausfall des Systems führen würde. Die Gesamtheit der schwachen Verbindungen sowie deren Verteilungseigenschaften können jedoch einen starken Einfluss darauf haben, wie schnell sich ein System umkonfigurieren kann, um auf eine neue Anforderung zu reagieren.
Elemente der Flexibilität für die flexible, selbstanpassende Produktion
Manche der Elemente der Flexibilität, wie etwa Modularität, sind uns im Fertigungskontext bestens vertraut. Andere, wie etwa schwache Verknüpfung, dürften bisher gar nicht betrachtet worden sein. Insbesondere ist es eine neue Forschungsagenda, sich das Zusammenspiel dieser Elemente im Kontext von CPPS als lernende Systeme anzuschauen. Diese Forschungsagenda ist inhärent interdisziplinär und reicht weit über das Leitprojekt EVOLOPRO hinaus. Sie erfordert systemisches Denken sowie ingenieurstechnisches, mathematisches und Know-how über Maschinelles Lernen. In EVOLOPRO haben wir die Erfahrung gemacht, dass es schon eine Herausforderung ist, das richtige Mindset unter allen Beteiligten herzustellen und die unterschiedlichen Fachdisziplinen inklusive ihrer Herangehensweisen und Kommunikationsstrategien aneinander zu führen. Auch eine leicht vermittelbare Demonstration des Nutzens ist schon eine Herausforderung, da es keine geeigneten, weithin akzeptierten Kennzahlen (Key Performance Indicator, kurz KPI) gibt, mit denen die Leistung von Aktivitäten ermittelt werden könnte, wenn man das klassische Dreieck aus Qualität, Kosten und Zeit verlässt.
Für eine tiefergehende Einführung in die Thematik verweisen wir auf unsere Arbeit »The elements of flexibility for task-performing systems«. Auch wenn noch einiges an angewandter Forschung nötig ist, sind wir überzeugt, dass die Umsetzung der Elemente der Flexibilität einen signifikanten Beitrag zur biointelligenten Produktion von morgen liefern wird. In den folgenden Blogbeiträgen der Serie werden wir darüber berichten, welche ersten Schritte wir in EVOLOPRO schon unternommen haben. Im zweiten Beitrag wird es darum gehen, wie man Flexibilität überhaupt systematisch untersuchen kann und wie aufwendig das bereits für eine einfache Problemstellung werden kann.